Nagold, evangelische Stadtkirche

Disposition

Mit der Orgeleinweihung zu Ostern 2012 kommt ein nicht alltägliches Renovations- und Umbauvorhaben zum Abschluß, komplex in Vorgeschichte, Anforderung und Konzept. All diese Besonderheiten machen das Projekt inhaltlich interessant, mitunter widersprüchlich, und laden geradezu ein zum musikalischen Experiment und zur Diskussion. Neobarock und Hochromantik, atmender Wind und Ladenschwimmer, Flöte d´amor und Tochscreen- wieviel Universalität verträgt eine Orgel?

Die Vorgeschichte, kurz umrissen

1968-1971 wird die Stadtkirche von 1874 umfassend renoviert, im Innenraum bis auf das Mauerwerk ausgebeint und im nüchternen Stil der Zeit gestaltet.

Die alte, schon stark veränderte Weigle-Kegelladenorgel wird aufgegeben. Unter Verwendung vieler vorhandener Pfeifen und Register baut Weigle eine neue, nun im nördlichen Querschiff platzierte Orgel. Deren viertes Manual spielt die Orgel im Chorhaupt an, diese verfügt dort auch über einen eigenen Spielschrank.

Spätestens nach dem Jahre 2000 mehren sich spürbar die technischen Probleme der Orgel im Windsystem, den Ladenabdichtungen und mit festsitzenden Stimmkrücken. Das Instument ist stark verschmutz. Klangliche Defizite treten mehr und mehr in den Vordergrund: Wenig authentische Klangfarben zur Umsetzung klassischer Registrieranforderungen, dünner Zungenklang, schwach ausgeprägte Tragfähigkeit und diffuse Wahrnehmung der Orgel im Schiff. Aus der Praxis wird ein moderner Setzer und die teilweise Spielbarkeit der großen Orgel vom Chororgelspieltisch gefordert.

All dies bestimmt den 2010 zur Orgelsanierung ausgeschriebenen Maßmahmenkatalog des Sachverständigen Prof. Volker Lutz. Doch ein weiteres Thema wird virulent: Originale Register der Weigle-Orgel von 1874 tauchen wieder auf, manches könnte wieder Einzug halten- wie damit umgehen?

Lesen Sie mehr über die Geschichte der Nagolder Orgeln im
Beitrag von Volker Lutz zur Orgelfestschrift.

Das Renovationskonzept

Michael Mauch und ich teilen in erprobter Weise die Gewerke auf. Aufeinander abgestimmt bietet er die technischen Arbeiten an, ich die klanglichen. Unser Konzept überzeugt, erhält den Zuschlag und wird vor Vertragsunterzeichung im engen Kreis aus Kantorenehepaar Ammer, Sachverständigem Lutz und uns Orgelbauern optimiert.

Der Spieltisch erhält ein neues Regisertableau, komfortable Setzerfunktionen und eine ganze Reihe ergänzende Möglichkeiten, steuerbar mittels großem Touchscreen. Hauptwerk und Pedal werden durch den Einbau von Magneten in allen Trakturen auch von der Chororgel aus spiel- und registrierbar gemacht.

Klanglich wird zum Ziel, alle Faktoren so zusammenzuführen, dass in einem organischen Prozess alte Register im Schwellwerk gebündelt und mit vorhandenem addiert zur sinnvollen Einheit verschmelzen. Hier korrigieren wir bewusst die neobarocke Entscheidung von klassischen Vorbildern abzuweichen (Prinzipal=Holzprinzipal, Gamba=Spitzgamba, Flöte=Koppelflöte). Nach Prüfung der Windversorgung in den Kanzellen entscheiden wir uns für Restaurierung und Wiedereinbau eines geschlossenen Ensembles alter Register. Die klangliche Intergration hochliegender Aliquote und eines heterogenen Zungenchors orientieren sich an Ideen der Elsässer Orgelreform. Um auch für die Querkoppeln gut gerüstet zu sein erhält das Werk einen eigenen Motor. Die Schwellwirkung wird durch das Aufdoppeln aller Wände und Füllungen verbessert.

Die universelle Grundanlage der Orgel mit Hauptwerk, Rückpositiv und Schwellwerk bleibt in dieser Intention bestehten. Im Rückpositiv werden neobarocke Charakteristika weitgehend erhalten, lediglich die Terz-None weicht einer Sesquialtera. Durch behutsame klangliche Optimierung kann das Werk, begünstigt duch die akustisch vorteilhafte Lage, dennoch überzeugend mit den anderen Werken korrespondieren.

Das Hauptwerk muss nun die stilistische Vermittlerrolle meistern, die das Konzept zwingend beinhaltet. Durch die tiefe Aufstellung im Gehäuse, enge Becher der Plenumszungen und fehlender Prinzipale in  2 2/3’ und 2’ Lage konnte es seither seinem Namen nur bedingt Ehre machen. Durch Einzelmaßnahmen war hier keine Abhilfe zu erwarten. So wollten wir ganzheitlich alle Verbesserungsmöglichkeiten ausschöpfen, um ohne jede Forcierung von Einzelstimmen ein lebendiges und gravitätisches Werk zu schaffen.

Zunächst wurden also die Dächer über dem Hauptwerk geöffnet und mit bespannten Rahmen klanglich durchlässiger gemacht. Auch die linke Seitenwand der Orgel wurde komplett mit geschlitzten Füllungen versehen. Um den Wind interesannter und plastischer zu machen instalierte Michael Mauch einen eigenen, mit Gewichten belasteten Schwimmer im Unterbau. Nun ist musikalisch ein Atmen hörbar, der Klang dynamisiert.

Um das Prinzipalplenum besser abzustufen wurde die zweite Klangkrone „Rauschwerk“ zugunsten einer Quinte 2 2/3’ und einer Superoktave 2’ aufgegeben. Als dritten 8’ fügten wir eine Gamba hinzu, statt der leisen Flachflöte sättigt nun eine Holzflöte die 4’-Lage. Die alte Trompete konnte sich ganz am Ladenende, noch hinter der hölzernen Wand aus Bourdon 16’-Pfeifen nicht durchsetzen. Hier steht nun eine neue, mit weiten französischen Kehlen eigens für Nagold konzipierte Trompete, die den Raum besser erreicht. Das Fagott 16’ wurde umfassend optimiert, die große Oktave der besseren Tragfähigkeit halber mit belederten Kehlen versehen. Aller Register wurden neu intoniert und fein abgestimmt in Charakter und Korrespondenz zwischen den Werken.

Das Pedal präsentiert sich mit den durch die Firma Killinger überarbeiteteten großen 32’- und 16’-Zungen durchaus mächtig. Der neue Oktavauszug 8’ aus dem Prinzipalbass, ein ergänzter Violon 8’ aus historischem Bestand und der fein zeichnende Basszink erlauben im Verbund mit den weiteren Pedalregistern die nötige Anpassung an alle klanglichen Erfordernisse.

Die Chororgel schließlich erhielt lediglich einen Vorabzug der prinzipalischen 1 1/3’-Quinte aus der Mixtur, wurde behutsam nachintoniert und im Weiteren in ihrer Anlage unverändert belassen.

Lesen Sie mehr über den Umgang mit dem klanglichen Erbe im Festschriftbeitrag von Tilman Trefz.

Alle Details und die Dispositionen von 1874, 1971 und 2012 finden Sie hier in Tabellenform